50 Jahre Landkreis Kassel – „In Hessen ganz oben!“
Im Jahr 2022 feiert der Landkreis Kassel das 50 Jahr seines Bestehens als Gebietskörperschaft.
Was ist das Besondere am Landkreis Kassel? Was zieht sich durch die letzten 50 Jahre und wird sich (hoffentlich) auch noch die nächsten Jahre als prägendes Element bemerkbar machen? Erstaunlicherweise gibt es darauf eine Antwort: Der Landkreis Kassel zeichnet sich dadurch aus, dass er Aufgaben lieber selbst erledigt, als sie durch Andere erledigen zu lassen. Das führt dann auch dazu, dass man schneller ist, als Andere, weil man sich ja mit niemanden abstimmen muss.
Starten wir also mit der Reihe der Alleingänge des Landkreises Kassel, die häufig von den jeweils amtierenden Landräten angeregt und angestoßen wurden. Beginnen wir mit der Energiepolitik: Als Landrat Dr. Schlitzberger 1993 die erste Solaranlage als Pilot auf dem Vordach des Eingangs der Sporthalle der Jugendburg und Sportbildungsstätte Sensenstein anbringen ließ, hielt man ihn „für verrückt“, um noch die freundlicheren Bewertungen zu zitieren. In der Folge folgten noch zahlreiche weitere „Solarverrücktheiten“, die Installierung von Holzhackschnitzelfeuerungsanlagen (es hielt sich lange Zeit der Mythos, dass Dr. Schlitzberger auch aus dem Tiefschlaf geweckt dieses schöne Wort ohne Fehler von sich geben konnte) über Erdgasfahrzeuge und die konsequente Verbindung von Abfall- und Energiepolitik bis hin zum Deutschen Solarpreis, den der Landkreis 2006 erhalten konnte: Nachhaltigkeit wurde hier also schon immer großgeschrieben. Mittlerweile gibt es 53 Photovoltaikanlagen auf kreiseigenen Dächern und Flächen, 12 thermische Solaranlagen auf Schuldächern, sieben Holzhackschnitzelfeuerungsanlagen und 14 Holzpelletanlagen. Dazu kommen drei Biogasanlagen, von denen die des Entsorgungszentrums Lohfelden neben der Söhreschule auch Immobilien der Gemeinde versorgt. Um das Ganze kümmert sich die kreiseigene Planungs- und Betriebs-GmbH. Grundlage der vielfältigen Initiativen war und ist der Verein Energie 2000 e.V., dessen Name heute bereits anachronistisch anmutet. Die Namensgebung zeigt jedoch, wie früh sich der Landkreis mit dem Thema beschäftigt hat. Energie 2000 e.V. zeigt im Übrigen auch, dass man gern vieles allein machen kann, aber man trotzdem regionale Vernetzung lebt.
Bis heute sind viele kreisangehörigen Kommunen Mitglied im Verein, ebenso wie die Kreishandwerkerschaft, die EAM Netz, das Fraunhofer Institut IWES und die Stadtwerke Kassel und Wolfhagen.
Das Beispiel Vorreiter bei der Nutzung von erneuerbaren Energien zeigt allerdings auch die Schattenseite des „Ich mach’s selbst und warte nicht auf andere“: Von den Fördermitteln des Landes zum Ausbau der Nutzung von erneuerbaren Energien auf Bundes- und Landesebene konnte der Landkreis erst spät profitieren, da er die ersten Förderprogramm-Voraussetzungen bereits durch Eigeninitiative erfüllt hatte.
Apropos Verbindung von Energie- und Abfallpolitik: Der Eigenbetrieb Abfallentsorgung Kreis Kassel (Öffnet in einem neuen Tab) (klar, dass der Landkreis diese Aufgabe nicht an einen Dritten vergeben hat) hat sich bereits frühzeitig mit Stoffstrom-Management beschäftigt. Von 1995 bis 2007 gab es zum Teil erbitterte Auseinandersetzungen über die Abfallpolitik im Landkreis Kassel. Zwischen den beiden Alternativen Entsorgung der Kreisabfälle in der Kasseler Müllverbrennungsanlage und Aufbereitung der Abfälle zur Brennstofferzeugung (das sogenannte Trockenstabilat) entschied sich der Landkreis mit seinem Eigenbetrieb für die zweite Alternative und mit Blick von heute ist er damit sehr gut gefahren. Auch nach einer Gebührenerhöhung zum 1. Januar 2021 liegen die Gebühren für eine 80-Liter-Restmüll-Tonne ungefähr auf dem Niveau von 2005 und im hessenweiten Vergleich im unteren Preissegment. Im Preis inbegriffen sind dabei auch die Abholung der Grünen Tonne, die uns zum nächsten vorzeitigen Alleingang des Landkreises Kassel führt. Während Grüne Abfalltonnen in manchen hessischen Landkreisen erst in den letzten fünf Jahren auftauchten, gibt es die Grüne Tonne im Landkreis bereits seit mehr als 25 Jahren. Mittlerweile ist der Landkreis Kassel mit 187 Kilogramm Bioabfälle pro Einwohner einer der beiden Spitzenreiter in Hessen.
Nachhaltig sind auch die Investitionen in die soziale Infrastruktur, zu denen besonders die Jugendburg und Sportbildungsstätte Sensenstein (Öffnet in einem neuen Tab), die Freizeiteinrichtungen des Landkreises auf Sylt (Öffnet in einem neuen Tab) und in Berchtesgaden (Öffnet in einem neuen Tab), das Wasserschloss Wülmersen (Öffnet in einem neuen Tab) und natürlich der Tierpark Sababurg (Öffnet in einem neuen Tab) gehören. Diese Einrichtungen selbst zu betreiben, bietet die große Chance, in den vom Kreistag gewählten Betriebskommissionen und im Kreistag selbst über die strategische Weiterentwicklung dieser Infrastruktur zu entscheiden. Dass der Tierpark zu den größten Tourismus-Magneten in Nordhessen gehört, dass das Wasserschloss Wülmersen bei allen Denkmalpreisen dieser Welt abgeräumt hat und dass jedes Kind aus dem Landkreis auf dem Sensenstein Fahrrad fahren lernt und sich bei den Seniorennachmittagen viele Jahre später am gleichen Ort daran erinnern kann, ist in dieser Vielfältigkeit etwas Besonderes und in „Hessen ganz oben“.
Vielfältig ist auch das Bildungsangebot im Landkreis Kassel: Alle Schulformen sind präsent, die Volkshochschule Region Kassel (Öffnet in einem neuen Tab) und andere Fort- und Weiterbildungsträger bieten in den kreisangehörigen Kommunen und in Kassel interessante Veranstaltungen an und auch die Universität Kassel ist mit dem Standort Frankenhausen im Landkreis vertreten (zugegeben: Das haben wir dem damaligen Leiter des Landesamtes für Regionalentwicklung und Landwirtschaft Prof. Dr. „Hardy“ Vogtmann zu verdanken).
Der Pisa-Schock führte im Landkreis Kassel zu einer umfangreichen Investitionsinitiative für die kreiseigenen Schulen, die gemeinsam von Landrat Dr. Schlitzberger und dem damaligen für die Schulen verantwortlichen Ersten Kreisbeigeordneten Uwe Schmidt initiiert wurde. Zwischen 2007 und 2012 wurden rund 200 Millionen Euro in Form des Modells einer Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (ÖPP) in 20 Schulen investiert. Halt! Öffentlich-Private-Partnerschaft? Also nicht allein und selbst? Und wahrscheinlich auch nicht als erster in Hessen? Gemach, gemach. Dieses Investitionsvolumen hätte der Landkreis in seinem Haushalt in so kurzer Zeit nicht umsetzen können – daher ÖPP. Bei der Partnersuche ist man wieder einen besonderen Weg gegangen – der Landkreis wollte seine Schulen nicht an einen privaten Dritten abgeben, sondern nach der Sanierung quasi wieder zurückkaufen. Dafür wurde ein Modell gewählt, dass die Übernahme der Projektgesellschaften für die Schulbaumaßnahmen ermöglichte. Dieses Modell bot nur eine private Gesellschaft an, die ihrerseits wiederum eine Tochter der Hessischen Landesbank war. Die Hessische Landesbank gehört wiederum den Sparkassen in Hessen und die Kasseler Sparkasse wiederum wird von Stadt und Landkreis Kassel getragen. Also doch recht viel Eigenheiten in diesem ÖPP-Projekt – im Gegensatz zum dieses Mal schnelleren Landkreis Offenbach, der sich dann in der Folge allerdings mehrfach vor Gericht mit den privaten Partnern aus der Immobilienwirtschaft auseinandersetzen musste.
Eine weitere Besonderheit zeigt sich bei der Anstellung des Personals. Der Landkreis Kassel und der Landkreis Fulda waren lange Zeit die einzigen Kreise in Hessen, die ihre Schulen noch durch eigenes Personal reinigen ließen. Leider hat sich der Landkreis Fulda aus diesem Duo verabschiedet – im Landkreis Kassel wird mit positiven Feedback durch Lehrer/innen und Eltern noch bis heute selbst gereinigt.
Mit eigenem Personal und in eigener Regie stellte sich der Landkreis den Herausforderungen der steigenden Zahl der Asylsuchenden ab dem Jahr 2015. Dies hatte den unbestreitbaren Vorteil, dass der Kreis nah an den zu uns kommenden Menschen war (und ist) und so schnell auf sich anbahnende Entwicklungen reagieren konnte. Es hatte aber auch den Nachteil, dass Probleme, die zu dieser Zeit zu bewältigen waren, immer auch sofort die Kreisspitze betrafen und damit einen höheren Aufmerksamkeitsgrad erreichten, als wenn die Betreuung der Asylsuchenden durch einen Dritten erfolgt wäre. Aber auch hier gilt: Aus der heutigen Sicht war und ist die Betreuung der Asylsuchenden durch den Landkreis selbst ein Erfolgsmodell.
Wie gesagt: Manchmal hilft auch bei aller Eigenständigkeit die gute Vernetzung und das Gespür, für die richtige Personalentscheidung. Dass die RegioTram (Öffnet in einem neuen Tab) ein vorbildliches Nahverkehrssystem geworden ist und die Regionen Hofgeismar und Wolfhagen direkt mit der Kasseler Innenstadt verbindet, ist das Verdienst von Thomas Rabenmüller (für den sich der Landkreis Kassel besonders eingesetzt hatte), der leider viel zu früh verstorben ist.
Dass es durchaus sinnvoll sein kann, Aufgaben nicht selbst zu erledigen, zeigt die Geschichte von 50 Jahre Landkreis Kassel auch. In Vorbereitung der dann gescheiterten Bildung einer Region Kassel haben Stadt und Landkreis Kassel eine gemeinsame Kfz-Zulassungsstelle, eine gemeinsame Leitstelle, ein gemeinsames Gesundheitsamt, eine gemeinsame Volkshochschule und eine gemeinsame Ausländerbehörde gebildet. Die Kasseler Sparkasse (Öffnet in einem neuen Tab) wird von Stadt und Landkreis Kassel getragen und es gab auch eine Zeit, in der die vormals eigenständigen Kreiskliniken zur Gesundheit Nordhessen Holding AG gehörten, zu der auch das Klinikum Kassel gehört. Aufgaben gemeinsam zu erledigen und dabei auch Verantwortung an den Partner abzugeben, macht Sinn, wenn sich dadurch eine Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger ergibt und die Partner auf Augenhöhe miteinander umgehen. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, muss man versuchen dies wieder zu verändern oder falls dies nicht möglich ist, die Konsequenzen ziehen. Genau dies hat der Landkreis im Fall der Kreiskliniken (Öffnet in einem neuen Tab) getan.
Kann man nach 50 Jahren eine Bilanz ziehen? Ist das überhaupt ein besonderes Alter für eine kommunale Gebietskörperschaft oder eine Verwaltung? Eine Bilanz ist immer dann überzeugend, wenn mehr auf der Habenseite steht.
Dass dies im Landkreis Kassel so ist, zeigen die gegen die Prognosen steigenden Bevölkerungszahlen. Dass auch nicht alles perfekt ist und eine Reihe von Herausforderungen in den nächsten Jahren warten ist auch klar. Mit 50 Jahren ist man gemeinhin in der Midlife-Crisis – dafür hält sich der Landkreis tapfer (wie das Improvisationstalent in der Corona-Pandemie zeigt). Die Bevölkerungsstruktur in der Region Kassel wird dazu führen, dass die Richtung nicht zum Feuilleton-Bekannten „alten weißen Mann“ weist, sondern zu einem vielfältigen und aufgeschlossenen Landkreis, der für die nächsten 50 Jahre gut gerüstet ist.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version eines Beitrags von Harald Kühlborn, der in der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs 2022 erschienen ist. Das Jahrbuch ist im Buchhandel sowie im Kreishaus Kassel erhältlich. (Öffnet in einem neuen Tab)